Graphen schlägt Wellen
Wissenschaftler der FAU zeigen, wie zweilagiges Graphen effektiv „Stress abbaut“
Stress tritt häufig dann auf, wenn man unter Druck gerät, sei es von außen oder innen. Das gilt nicht nur für uns Menschen, sondern auch für Materialien und Werkstoffe. Ein Material, das unter Stress steht, erfährt mechanische Spannungen: Diese können von außen auf das Material einwirken oder aber im Inneren vorliegen, zum Beispiel an Defekten im Material oder aber, wenn sich ein Teil des Materials ausdehnen möchte, von einem anderen jedoch daran gehindert wird. Wie sieht es aber mit inneren Spannungen bei einem Material aus, das nur aus zwei Atomlagen besteht? Mit dieser Frage haben sich Wissenschaftler der FAU beschäftigt.
In der aktuellen Online-Ausgabe der renommierten Wissenschaftszeitschrift Nature¹ berichten sie, wie zweilagiger Kohlenstoff – auch Bilagen-Graphen genannt – in erstaunlicher Weise innere Spannungen abbaut, die an Defekten auftreten. Die Ergebnisse liefern nicht nur grundlegende Einblicke in das Wechselspiel von Defekten und mechanischen Spannungen in Nanomaterialien, sondern könnten auch die Tür zu neuen Wegen öffnen, um die elektronischen Eigenschaften von Bilagen-Graphen und anderen ultradünnen Schichtkristallen gezielt zu verändern.
Das interdisziplinäre Team von Wissenschaftlern aus den Werkstoffwissenschaften, der Physik und der Computer-Chemie haben hierzu detaillierte elektronenmikroskopische Analysen an freistehenden Membranen aus Bilagen-Graphen durchgeführt und diese mit aufwändigen Computersimulationen verglichen.
Eingespannte Graphen-Membran für Untersuchungen im Elektronenmikroskop
Zunächst stellten die Wissenschaftler hochwertiges Bilagen-Graphen bei Temperaturen über 1750 °C auf atomar glatten Oberflächen von Siliziumkarbid-Einkristallen her. Mit einer ausgeklügelten Methode, die in der Arbeitsgruppe von Prof. Heiko Weber, Physiker an der FAU und Koautor der Veröffentlichung, entwickelt wurde, gelang es dann, das Siliziumkarbid an einzelnen Stellen selektiv zu entfernen, ohne das Graphen zu zerstören. „Die resultierenden Membranen eignen sich ideal für Untersuchungen im Transmissionselektronenmikroskop, da sie in einen festen Rahmen aus Siliziumkarbid eingespannt sind, ähnlich wie eine Sprungmatte im Trampolin“, erläutern Dr. Benjamin Butz und Prof. Erdmann Spiecker von der Arbeitsgruppe Elektronenmikroskopie, in der die mikroskopischen Analysen durchgeführt wurden.
Bei ihren Untersuchungen nutzten die Wissenschaftler ein hochmodernes aberrationskorrigiertes Transmissionselektronenmikroskop, mit dem sich das Graphen bei reduzierter Elektronenenergie ausgiebig studieren lässt, ohne beschädigt zu werden. Dabei machten die Erlanger Forscher eine erstaunliche Beobachtung: Anstelle des perfekten Bilagen-Graphens, bei dem die Atome auf streng periodischen Gitterplätzen liegen und die beiden Atomlagen eine definierte Stapelung besitzen, zeigten sich in regelmäßigen Abständen linienartige Kristallbaufehler, sogenannte Versetzungen. „Solche Defekte treten auf, wenn sich während der Herstellung eine Atomlage des Bilagen-Graphens relativ zur anderen ausdehnt oder zusammenzieht“, erklärt Prof. Spiecker. „Geschieht das, passen die beiden Lagen nicht mehr exakt aufeinander, da die eine ja mehr Atome unterbringen muss als die andere.“
Da das Bilagen-Graphen jedoch ganz bestimmte Stapelanordnungen energetisch bevorzugt, versucht es, auf möglichst großen Flächen in diese „einzurasten“. Als Folge entstehen abwechselnd Streifen, in denen das Bilagen-Graphen günstig gestapelt und weitgehend spannungsfrei ist, und solche, in denen die Stapelanordnung gestört ist und die beiden Atomlagen stark gegeneinander verspannt sind. Letztere entsprechen gerade den Versetzungen. Die Konzentration innerer Spannungen an Versetzungen ist eines der Charakteristika dieser Kristallbaufehler, die in der Materialforschung eine extrem wichtige Rolle spielen.
Entspannung durch Wellenbildung
Lassen sich aber solch starke innere Spannungen, wie sie an den Versetzungen auftreten, in einer nur zwei Atomlagen dünnen Membran aufrechterhalten? Die Antwort heißt nein, wie die Erlanger Wissenschaftler überzeugend belegen konnten. „Weil die Membran so dünn ist, kann sie sich fast beliebig verbiegen, um die inneren Spannungen abzubauen“, erläutert Dr. Butz. Dass dies tatsächlich passiert, belegen Computersimulationen, die in der Arbeitsgruppe von Prof. Bernd Meyer am Computer-Chemie-Centrum durchgeführt und direkt mit den Experimenten verglichen wurden.
Im Computer wird die experimentelle Situation um solche Versetzungen nachgestellt. Hierbei wird jedes einzelne Kohlenstoffatom mit seinen Bindungen innerhalb seiner Atomlage, aber auch die wesentlich schwächere Wechselwirkung zwischen den beiden Lagen berücksichtigt. Wird die Gesamtenergie des Systems minimiert – dies entspricht dem Zustand, den ein Material gerne einnimmt, sofern keine äußeren Kräfte wirken –, schlägt die Membran Wellen, an jeder Versetzung eine. „Das Erstaunliche ist, dass durch die Bildung von Wellen die Spannungskonzentration an den Versetzungen nahezu komplett abgebaut wird“, sagt Prof. Meyer.
Grundlegende Erkenntnisse zu Kristallversetzungen – Einfluss auf elektronische Eigenschaften
Die Ergebnisse der Erlanger Materialforscher haben weitreichende Folgen für die Forschung an Graphen aber auch an verwandten Materialien, z.B. Bornitrid oder Dichalkogeniden. „Derzeit versucht man, innere Spannungen in Bilagen-Graphen einzubringen, um die elektronischen Eigenschaften des Materials gezielt zu verändern“, erläutert Dr. Butz. „Die Versetzungen und die Art und Weise, wie Bilagen-Graphen mit den auftretenden inneren Spannungen umgeht, könnten die Tür zu neuen Konzepten öffnen.“
Darüber hinaus liefern die Erlanger Resultate grundlegende Erkenntnisse zum Verhalten von Versetzungen in Nanomaterialien, einem hochaktuellen Thema in den Material- und Nanowissenschaften. „Bilagen-Graphen ist das dünnste Material überhaupt, in dem solche ausgedehnten Versetzungen eingeschlossen werden können“, weiß Prof. Spiecker. „Es ist somit ein ideales Modellsystem, um die Wechselwirkung von Versetzungen mit freien Oberflächen zu studieren.“